Seite 9 - Carolinea 68

W
einhardt
:
D
arwin
und die Theologie
9
men war, die wie er rechtgläubig (= orthodox)
waren, die aber nicht wie er an den buchstäblich
wahren Bibeltext glaubten, sondern eine moder-
nere Form des Christentums vertraten. D
arwin
erscheint noch als quasifundamentalistischer
Außenseiter neben der aufgeklärt-christlichen
Gruppe der Schiffsoffiziere.
Noch in Südamerika schrieb D
arwin
in sein Tage-
buch, „es sei ‚unmöglich, auch nur annähernd zu
schildern, welche gehobenen Gefühle des Stau-
nens, der Bewunderung und Andacht, die den
Sinn erheben und erfüllen‘, mich ergriffen, als ich
inmitten der Großartigkeit eines brasilianischen
Waldes stand“ (D
arwin
2008
a, S. 100). Auch hier
sehen wir noch einen religiös-emotional empfin-
denden Menschen vor uns, dessen Gedanken
inmitten der Natur und durch die Natur zu Gott
geführt werden.
Folgen wir D
arwin
s Lebensrückblick in der Auto-
biografie, dann zeigt er sich in der Zeit nach der
Rückkehr von der Schiffsreise irritiert durch na-
turwissenschaftlich falsche Mythen im Buch Ge-
nesis. Möglicherweise hatte er jetzt schon eine
Vorstellung von der späteren Evolutionstheorie.
Auf jeden Fall trat er jetzt im Londoner Milieu
endgültig aus dem Kreis seiner konservativen
religiösen Einstellung heraus. Denn wenn er z.B.
über seine damaligen Schwierigkeiten mit dem
tyrannischen Gottesbild des Alten Testaments
berichtet, so hat dieses Thema nichts mit der
Evolution des Lebens zu tun. Vielmehr berührt
er hier einen zwischen der radikalen Aufklärung
und der gemäßigten Aufklärungstheologie heiß
umstrittenen Punkt. In die gleiche Richtung weist
die Angabe D
arwin
s, er sei damals zu Zweifeln
an den neutestamentlichen Wundern und ande-
rer Beweise für die Wahrheit des Christentums
gekommen: „In London beschlich mich der Un-
glaube ganz langsam, am Ende aber war er un-
abweisbar und vollständig“ (D
arwin
, 2008
a, 94-
96).
D
arwin
bezeichnete sich am Ende seines Lebens
als einen Agnostiker in religiösen Dingen, also
als einen Menschen, der sich eines endgültigen
Urteils über Gott und den Glauben enthält. Es ist
wichtig hervorzuheben, dass die Evolutionsthe-
orie nicht die Ursache für diesen Agnostizismus
war. Im Schlusssatz seiner Entstehung der Arten
(1859)
schrieb D
arwin
:
There is grandeur in this view of life, with its sev-
eral powers, having been originally breathed into
a few forms or into one; and that, whilst this planet
has gone cycling on according to the fixed law of
gravity, from so simple a beginning endless forms
most beautiful and most wonderful have been,
and are being, evolved” (D
arwin
2003,
S. 490)
4
.
Hier ist nicht explizit die Rede von Gott, aber
die Wendung von der Einhauchung des Lebens
spielt deutlich auf Gen 2, 7 an. Es liegt also
ein Vermittlungsversuch zwischen biblischem
Schöpfungsglauben („breath“) und Evolutions-
theorie („into a few forms or into one“) vor, der
beispielgebend für die Entwicklung der nachdar-
winischen christlichen Theologie geworden ist. In
den späteren Auflagen der Entstehung der Arten
veränderte D
arwin
diesen Satz noch, indem er
jetzt ausdrücklich schrieb, dass „der Schöpfer“
nur einer einzigen Form das Leben eingehaucht
habe.Wie verhält sich diese glaubensfreundliche
Aussage aber zu D
arwin
s Agnostizismus?
Diese Frage lässt sich klären, wenn wir D
arwin
s
privatere Texte betrachten. In einem Brief an
seinen Freund A
sa
G
ray
(
er war Botaniker und
überzeugt von der Wahrheit der Evolutionstheo-
rie) aus dem Jahr 1860 schrieb er: „Es scheint
mir zu viel Elend in der Welt zu sein. Ich kann es
nicht glauben, dass ein gütiger und allmächtiger
Gott planmäßig die Schlupfwespen erschaffen
hat mit der ausgesprochenen Absicht, dass sie
lebendige Raupen von innen auffressen oder
dass eine Katze mit Mäusen spielen soll“ (D
ar
­
win
, 2008
b, S. 11).
D
arwin
beginnt also mit dem Problem der Theo-
dizee bei der Abwägung der Wahrheit der Glau-
bensaussagen: Dass gerechte Menschen bitter
leiden müssen, war schon seit der Antike ein
Hauptargument gegen die Existenz eines gü-
tigen Gottes. D
arwin
führt zwei Beispiele aus der
Tierwelt für „ungerechtes“ Leiden an. Es dürfte
kein Zufall sein, dass er neben dem Katz-und-
Maus-Spiel ausgerechnet die Schlupfwespen
nennt. Der gebildete Zeitgenosse musste dabei
an P
aley
s Natural Theology denken, in welcher
gerade der Instinkt der Insekten bei der Ablage
ihrer Eier als Argument für die planmäßige Ord-
nung der Welt durch den Schöpfer herangezo-
gen worden war. Doch D
arwin
stellt sich nicht auf
die Seite derer, die aufgrund der Theodizeepro-
blematik den Glauben an einen guten Schöpfer-
gott ablehnen. Sein Brief fährt so fort: „Auf der
4
Es ist eine großartige Ansicht, dass das Leben mit seinen
verschiedenartigen Ausprägungsmöglichkeiten nur wenigen
oder nur einer einzigen Form eingehaucht wurde und dass,
während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwer-
kraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem
Anfang sich eine endlose Reihe der schönsten und wunder-
vollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt“