Carolinea 76

30 Carolinea 76 (2018) eine ähnlich hoch dimensionierte „Grundausstat- tung“ an epiphytischen Flechten gegeben. Es gibt anscheinend nur sehr wenige Zahlen. R ose (1974) ermittelte an einer Eiche in einem Wald in Großbritannien einen Spitzenwert von 53 Flechtenarten, C ross & S anderson (2012) stell- ten an einer umgestürzten alten Buche 61 Flech- tenarten und sieben flechtenbewohnende Pilze fest, dazu 11 Moos- und Lebermoosarten. P a - quy (1906) untersuchte die seinerzeit berühmte 300-jährige, 35 m hohe „Hêtre de Parigoutte“ zwischen Longemer und Retournemer in den Westvogesen, nachdem sie einige Meter über dem Boden abgebrochen war. Er stellte 67 Epi- phyten fest, darunter sechs Pilze, sechs Moose und (mit Hilfe des bekannten Lichenologen H ar - mand ) 50 Flechten, von denen nach heutiger Auffassung zwei als taxonomisch unbedeutende Modifikationen anderer aufgeführter Arten an- gesehen werden müssen; das Auffinden von nur zwei Gefäßpflanzen führte er auf den Zeit- punkt des Zusammenbruchs (Winter) zurück sowie auf die fast achtmonatige Lagerungszeit des abgebrochenen Stammes bis zur Untersu- chung – was sicher auch für eine vollständige Erfassung der Kryptogamen nicht förderlich war. S egatz (2013) erwähnt als maximale Zahl auf untersuchten Esskastanien in der Pfalz 55 Arten (Mittel: 40). H ultegren (1995) registrierte an einer 88-jährigen „Rieseneiche“ mit naturgemäß einer Vielzahl von Mikrohabitaten 68 Flechtenarten. Diese letztere Zahl wird an der Weidbuche am Schauinsland noch um 23 Arten übertroffen. Da- mit wird hier die höchste bisher in Mitteleuropa, wenn nicht ganz Europa festgestellte Flechten- artenzahl an einem Baum erreicht. Es ist durch- aus wahrscheinlich, dass die Zahl der Arten an einzelnen anderen Bäumen in der Nachbarschaft noch höher ist als an dieser zufällig aus „unter- suchungstechnischen“ Gründen ausgewählten Weidbuche. Unterrepräsentiert sind die un- scheinbaren lichenicolen Pilze; als nach ihnen auf einer „Nachexkursion“ speziell gesucht wer- den sollte, war das abgebrochene Astmaterial aufgeschichtet und nur noch partiell zugänglich. Die hohe Zahl an Epiphyten lässt sich im We- sentlichen auf drei Faktoren zurückführen: 1. klimatische Faktoren: Die hohen Niederschlä- ge und das ozeanisches Temperaturklima sind flechtengünstig; 2. ausbreitungsbiologische Faktoren: das hohe Al- ter des Trägerbaums, das die Ansiedlung auch solcher Arten begünstigt, deren Diasporenpro- duktion und -ausbreitung wenig effektiv sind; 3. standörtliche Faktoren: Die ebenfalls mit dem Alter zusammenhängende Vielfalt an Mikro- habitaten erweitert das Spektrum von Arten, die an einer alten Weidbuche geeignete ökolo- gische Bedingungen vorfinden, erheblich. Be- sonders letzterer Punkt ist der wohl wichtigste. Ökologische Diversität fördert Artenvielfalt. Alte Weidebuchen bieten sowohl glatte wie auch poröse bis vermorschende, substratfri- sche Rinde, ausgesprochen feucht-schattige wie auch exponierte, lichtreiche Habitate, lebendes Periderm wie auch Holzsubstrat, intensiv beregnete bis regengeschützte Par- tien, saure wie auch subneutrale Substrate. Günstig auf die Artendiversität wirkt sich sicherlich auch das Fehlen stärkerer eutro- phierender Einflüsse aus, was indirekt er- schlossen werden kann. Xanthoria parietina, Massjukiella polycarpa und Phaeophyscia or- bicularis sind nur an wenigen Stellen an den Ästen präsent, an natürlich mineralreichen Mikrohabitaten. Die eutrophierungstolerante Trentepohlia umbrina ist zwar an den dünnen Ästen vielfach mikroskopisch nachgewiesen worden, tritt makroskopisch aber nirgends in Erscheinung, und nach Ulothrix verrucosa , die gebietsweise reichlich vorkommt, wurde ver- geblich gesucht. Der Artenreichtum belegt, welche Bedeutung alte Solitärbäume und insbesondere Weidbuchen in der Schwarzwald-Landschaft generell als Biodi- versitäts-Träger haben. An einer einzigen Weid- buche sind somit 14 % aller in Deutschland vor- kommenden epiphytisch lebenden Flechtenarten (ca. 640, S chiefelbein et al. 2015) und ca. 19 % der entsprechenden in Baden-Württemberg vor- kommenden Arten nachgewiesen. Die Arten- zusammensetzung deutet darüber hinaus den Wert der Weidbuchen als Diasporenbank von hochgradig gefährdeten und vom Aussterben bedrohten Arten an, was auch schon aus den Artenlisten der Lungenflechtengesellschaft bei W irth (1968) deutlich wird. Man kann im Hinblick auf die Präsenz zahlreicher heute bedrohter Ar- ten von einem konservativen, in früheren Zeiten häufiger anzutreffenden Artenbestand sprechen. Diese Einschätzung wird bekräftigt durch ein anderes Phänomen. Es wurde an der Buche kaum eine der Arten gefunden, die in den letz- ten Jahrzehnten neu im Gebiet aufgetreten bzw. in Zusammenhang mit dem Klimawandel einge- wandert sind oder eine starke Zunahme erfah- ren haben, wie Anisomeridum polypori, Violella fucata, Fellhanera viridifarinosa, Jamesiella ana-

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