Seite 10 - Carolinea 68

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carolinea, 68
(2010)
anderen Seite bin ich keineswegs zufrieden da-
mit, dieses wunderbare Universum und beson-
ders die menschliche Natur wahrzunehmen und
zu schließen, das alles sei das Ergebnis eines
dumpfen Kräftespiels“.
Hier wirkt noch immer der physikotheologische
Gottesbeweis nach. Besonders den Menschen
kann sich D
arwin
(
noch?) nicht aufgrund des
physischen Kräftespiels als alleine entstanden
vorstellen. Doch wie denkt sich D
arwin
die Auflö-
sung des Widerstreits zwischen Theodizeepro-
blem und Gottesbeweis? Auch hierzu erhalten
wir einen Anhaltspunkt aus dem Schreiben an
G
ray
:
Ich neige dazu, alles als das Ergebnis von ge-
planten Gesetzmäßigkeiten anzusehen, wobei
die Einzelheiten, seien sie gut oder schlecht, der
Wirkung von dem überlassen sind, was wir Zufall
nennen“.
Das ist eine interessante Auffassung, die in der
Theologie des 20. Jahrhunderts aufgegriffen
worden ist. D
arwin
denkt, die Gesetzmäßigkeiten
in der Welt – die Naturgesetze, auch das Ge-
setz von Mutation und Selektion – seien geplant
worden. Was dann aus diesen Rahmengesetzen
heraus sich konkret entwickle, sei dem Zufall
überlassen. Nach dieser Auffassung hätte der
Schöpfer eine Welt erschaffen, die sich innerhalb
eines gesetzten Rahmens autonom entwickeln
könnte. Ganz analog begreifen die sog. Prozess-
theologie und viele andere gegenwärtige Ansät-
ze die Schöpfung als eine Dynamik, die Gott in
Gang gesetzt hat, die mehr oder wenige große
Freiheitsgrade innerhalb eines physikalischen
Rahmens aufweist und die von Gott begleitet
bzw. auf ein Ziel hingeführt wird (der letzte Ge-
danke wird auch verschiedentlich relativiert; vgl.
P
eacocke
, 2007;
P
olkinghorne
, 2008).
Aber auch dieser vermittelnde Gedanke über-
zeugt D
arwin
nicht vollständig. Er kommt in sei-
nem Brief an G
ray
zu dem Schluss: „Nicht das
dieser Gedanke mich vollständig befriedigt. Ich
empfinde sehr stark, dass dieser Gegenstand zu
schwierig ist für den menschlichen Verstand. Ge-
nauso gut könnte ein Hund über den Geist N
ew
­
ton
s spekulieren – Man soll jeden Menschen hof-
fen und glauben lassen, was er kann“ ­(D
arwin
,
2008
b, S. 11f.).
D
arwin
bleibt also beim Agnostizismus stehen:
Wir können die Frage nach der Existenz Gottes
aus Vernunftgründen nicht lösen. Damit verab-
schiedet sich D
arwin
von der natürlichen Theo-
logie P
aley
s, aber er führt die Evolutionstheorie
nicht als ein Argument gegen den Gottesglauben
an. Der Schlusssatz der Entstehung der Arten
bleibt ein Interpretationsangebot für Menschen,
die eine christliche Glaubenslehre mit der Evo-
lutionstheorie vereinbaren wollen. D
arwin
selbst
aber will bzw. kann dies nicht. Offensichtlich hal-
ten sich bei ihm die Theodizeeproblematik und
das physikotheologische Argument die Waage.
5
Es fehlt ihm ein Grund, sich auf einer der beiden
Seiten zu positionieren.
3.3
Die theologische Diskussion zwischen
C
harles
und
E
mma
D
arwin
In seiner Autobiografie schreibt C
harles
D
arwin
,
rückblickend auf die Jahre 1837/38: „Bevor ich
mich verlobte, riet mein Vater mir, meine Zweifel
sorgfältig geheimzuhalten, denn, so sagte er, er
habe erlebt, dass solche Zweifel zu extremem
Unglück in einer Ehe führen können“.
Gemeint sind hier religiöse Zweifel, wie der Fort-
gang der Erzählung zeigt: „Alles gehe so lange
gut, bis Ehemann oder Ehefrau ihre Gesundheit
einbüßten, und von da an litten manche Ehe-
frauen schrecklich, weil sie Zweifel am Heil ih-
rer Ehemänner bekämen, und die Ehemänner
müßten unter dem Unglück ihrer Frauen mit lei-
den“ (D
arwin
, 2008
a, S. 104).
Im Hintergrund steht hier die Vorstellung, dass
religiöser Unglaube von Gott mit der ewigen Höl-
lenstrafe belegt werde, so dass die gläubige Frau
eines Agnostikers sich große Sorgen um das
jenseitige Schicksal ihres Mannes machen konn-
te. Nun war E
mma
W
edgewood
eine sehr gläubige
Frau, so wie schon C
harles
D
arwin
s Mutter und
seine Schwestern. Tatsächlich schrieb sie ihm,
5
D
arwin
s religionsphilosophische Argumentation in der späte-
ren Autobiografie verläuft völlig parallel zu dem oben zitierten
Brief: D
arwin
beginnt damit, dass ihm das sehr alte Argument
gegen die Existenz eines Schöpfergottes, nämlich das Vor-
handensein von so viel Leid in der Welt, sehr überzeugend
vorkomme. Dann folgt das physikotheologische Argument für
die Existenz Gottes, nämlich die extreme „Schwierigkeit oder
eigentlich Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dieses gewaltige,
wunderbare Universum einschließlich des Menschen mit-
samt seiner Fähigkeit, weit zurück in die Vergangenheit und
weit voraus in die Zukunft zu blicken, sei nur das Ergebnis
blinden Zufalls oder blinder Notwendigkeit“. Wieder kommt er
zu dem vorläufigen Schluss: „Wenn ich darüber nachdenke,
sehe ich mich gezwungen, auf eine Erste Ursache zu zäh-
len, die einen denkenden Geist hat, gewissermaßen dem
menschlichen Verstand analog, und ich sollte mich wohl ei-
nen Theisten nennen.“ Sein letztes Wort ist aber auch in der
Autobiografie der Agnostizismus: „Aber dann regt sich der
Zweifel [...] Ich kann nicht so tun, als sei es mir möglich, auch
nur einen Funken Licht in so abstruse Probleme zu bringen.
Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht auf-
klären, und ich jedenfalls muß mich damit zufrieden geben,
Agnostiker zu bleiben“ (D
arwin
2008
a, S. 99-103).