Andrias 19 - page 5

S
choller
: Vorwort/Preface
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Pilze verbindet der Laie zunächst meist mit einer
leckeren Mahlzeit. Champignons, Steinpilze oder
Morcheln sind äußerst schmackhaft und heute
regelmäßiger Bestandteil unserer Speisen. Be-
kannt sind auch die Bierhefe und der Blauschim-
mel im Käse und damit eher unscheinbare Pilze,
die wir (industriell) zur Herstellung oder Verede-
lung von Lebens- und Genussmitteln nutzen. In
die Gruppe der nützlichen Schimmelpilze fallen
außerdem wichtige Antibiotikaproduzenten. An-
dere Pilze fürchten wir, etwa den tödlich giftigen
Grünen Knollenblätterpilz, Schimmelpilze an
feuchten Wänden und in Lebensmitteln oder den
Hausschwamm im Kellergewölbe.
Ansonsten werden Pilze oft nicht wahrgenom-
men – im Gegensatz zu Pflanzen, die allgegen-
wärtig sind, oder zu Tieren, wie Eichhörnchen,
Blaumeise oder Zitronenfalter, die uns schon im
eigenen Garten begegnen. Umso erstaunlicher
ist es, dass die so genannten Echten Pilze, zu
denen die allermeisten Pilzarten gehören, ein ei-
genes Reich (Regnum Fungi) von großer Vielfalt
bilden. Mit geschätzten 1,5 Millionen Arten über-
treffen sie die Gefäßpflanzen um das Fünf- bis
Sechsfache. In diesem Zusammenhang sei an-
gemerkt, dass die Pilze, was viele nicht wissen,
mitnichten zu den Pflanzen (Regnum Plantae)
gehören, sondern die Schwestergruppe der
Tiere (Regnum Animalia) bilden. Auch sind sie
potentiell unsterblich und bilden die größten In-
dividuen. − So breitet der in der populären Pres-
se häufig als „größter Organismus“ klassifizierte
Hallimasch sein Pilzgeflecht über mehrere km
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aus. Die Unscheinbarkeit der Pilze erklärt sich
damit, dass sie sich dem Menschen meist nur
anhand ihrer unregelmäßig und kurzzeitig gebil-
deten Fruchtkörper zeigen. Die in ihrer Gesamt-
heit als Myzel bezeichneten Pilzfäden (Hyphen)
im Substrat (Boden, Holz, Streu, Horn, lebendes
Gewebe von Wirtsorganismen) stellen die meist
unsichtbare Hauptmasse des Organismus dar.
Die Hyphen scheiden Enzyme in das Substrat
aus, nehmen dann die zerkleinerten Teile durch
Endocytose auf und gewinnen so die Energie für
Wachstum und Fortpflanzung. Durch diese äu-
ßere Verdauung unterscheiden sie sich von den
meistenTieren (innereVerdauung oder Ingestion)
und den autotrophen Pflanzen. Bei Pilzen sind
drei Grundtypen der Ernährung bekannt: Als Sa-
probionten zersetzen sie totes organisches Ma-
terial und mineralisieren es. Ohne Saprobionten
wäre ein Leben auf dem Planeten nicht möglich,
da die anderen Organismen im „organischen
Müll“ ersticken würden. Als Symbionten (Mykor-
rhiza- und Flechtenpilze) versorgen sie Pflanzen
mit Wasser und Mineralstoffen und fördern deren
Wachstum. Schließlich gibt es unter den Pilzen
auch reichlich Parasiten von Pflanzen und Tie-
ren. Deren Bedeutung u.a. als Regulator und
Evolutionsmotor ist immens. Der Mensch sieht
das nicht immer aus dieser Perspektive, zumal
viele Parasiten auch bedeutende Kulturpflanzen-
schädlinge sind, die Ernteerträge mindern und
Zierpflanzen „verunstalten“.
Wenngleich in der Gesamtbevölkerung das
Wissen um Pilze eher gering ist, so muss doch
betont werden, dass es auch eine nicht geringe
Zahl von Menschen gibt, die sich mit Pilzen be-
schäftigen. Dies sind einerseits Pilzsammler und
Freizeitpilzkundler, häufig organisiert in Pilz­
vereinen, andererseits professionelle Mykologen,
etwa in der freien Wirtschaft (meist Industrie), an
Universitäten und anderen Forschungseinrich-
tungen, Pflanzenzüchter, Phyto- und Forstpatho-
logen, Mediziner, Ökologen, Naturschützer etc.
Dies galt und gilt auch heute noch ganz speziell
für Baden-Württemberg, das südwestdeutsche
Bundesland mit seinen knapp 10,8 Millionen Ein-
wohnern.
Die professionelle wissenschaftliche Mykologie
im heutigen Baden-Württemberg nahm ihren
Aufschwung, wie andernorts in Mitteleuropa, in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Geför-
dert wurde sie durch den Staat, auch als Fol-
ge der zahlreich eingeschleppten und ökono-
misch bedeutenden Kulturpflanzenschädlinge
(Kraut- und Knollenfäule der Kartoffel, Echter
und Falscher Mehltau des Weins). Hier muss
vor allem Prof. H
einrich
A
nton
de
B
ary
(1831-
1888) genannt werden. Der in Frankfurt a. M.
Morcheln, Mykotoxine und Moleküle:
Mykologie in Baden-Württemberg
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arkus
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