Andrias 19 - page 209

S
tedtler
& H
ermanns
-C
lausen
: Pilzvergiftungen
167
sten Tagen entwickeln die Patienten Symptome
eines Leberzerfalls, der in schweren Fällen eine
Lebertransplantation erforderlich macht oder
zum Tod führen kann. Behandelt wird die Vergif-
tung unter anderem durch frühzeitige Kohlega-
be, Infusionen mit dem Gegengift Silibinin und
durch intensivmedizinische Therapie. Kohle und
Silibinin sind umso wirkungsvoller, je früher sie
gegeben werden. Überleben die Patienten die
Vergiftung ohne Transplantation, erholt sich die
Leber meist vollständig.
Pantherina-Syndrom
Dieses Syndrom wird ausgelöst durch den Flie-
genpilz (Amanita muscaria), den Pantherpilz (A.
pantherina) und einige andere verwandte Pilz-
arten. Kurze Zeit nach dem Essen kommt es
u.a. zu Übelkeit, Erbrechen, Gleichgewichtsstö-
rungen, Stimmungsveränderungen (Angst, De-
pression, Wut, Euphorie) und zu Muskelkrämp-
fen. Meist erholen sich die Patienten innerhalb
von 1-2 Tagen.
Orellanin-Syndrom
Der Genuss einiger Haarschleierling-Arten (Cor-
tinarius orellanus, C. speciosissimus z.B.) führt
neben gelegentlichen Magen-Darm-Beschwer-
den nach ca. 1-2 Wochen zu Nierenversagen.
Manchmal erholt sich die Nierenfunktion, häufig
bleiben die Patienten aber auf Blutwäscheverfah-
ren (z.B. Hämodialyse) angewiesen oder benöti-
gen eine Nierentransplantation.
Muscarin-Syndrom
Wenige Minuten bis 2 Stunden nach der Ein-
nahme kommt es zu heftigem Speichelfluss,
Schwitzen, Übelkeit, wässrigem Durchfall, Ver-
schleimung der Bronchien, Kreislaufschwäche
mit niedrigem Blutdruck und langsamem Puls.
Dazu kommen Sehstörungen mit engen Pupillen
und Kurzsichtigkeit. Ausgelöst wird das Syndrom
durch Muscarin, enthalten in Rißpilzen (Inocybe)
und Trichterlingen (Clitocybe). Die Symptome
können durch die Gabe von Atropin meist gut
beherrscht werden. Unter Therapie erholen sich
die Patienten vollständig.
Psilocybin-Syndrom
Kurz nach der Einnahme entsprechender Pilze
kommt es zu Rauschsymptomen mit verän-
derter Stimmung, u.U. auch zu Halluzinationen,
die bis zu einem Tag anhalten können. Begleit-
symptome sind Müdigkeit, Gleichgewichtsstö-
rungen und Kreislaufschwäche. Stark angstbe-
setzte Verläufe („bad trip“), Wut, Gewalttätigkeit
und Bewusstlosigkeit sind möglich. Psilocybin ist
in einigen heimischen Pilzen enthalten, z.B. im
Spitzkegeligen Kahlkopf (Psilocybe semilancea-
ta), häufig werden aber speziell gezüchtete und/
oder aus dem Ausland eingeführte Pilze gekauft
und zu Rauschzwecken konsumiert. Psilocybin-
haltige Pilze fallen unter das Betäubungsmittel-
gesetz.
Pilzanfragen
Großpilze kommen überall in Deutschland vor.
Der Kontakt mit Pflanzen und Pilzen ist mit 14 %
aller Fälle der dritthäufigste Grund, die VIZ zu
kontaktieren (nach Arzneimitteln in 32,3 % und
chemischen Produkten in 31,6 % aller Fälle im
Jahr 2010). Fälle mit Kontakt zu Pflanzen sind
dabei nahezu 9 mal häufiger als Fälle mit Kontakt
zu Pilzen. Die Zahl der Pilzanfragen schwankt
von Jahr zu Jahr sehr stark in Abhängigkeit vom
Wetter (Abb. 1). Schwere Vergiftungen durch
Pflanzen und Pilze sind selten, kommen aber
immer wieder vor. Die Aufnahme unbekannter
Pilze stellt dabei ein besonderes Problem dar.
Die auch nur grobe Einschätzung, ob es sich bei
der betroffenen Art um eine tödlich giftige Spe-
zies handeln könnte oder nicht, ist per Telefon
praktisch nicht möglich. Auch Röhrenpilze kön-
nen unangenehme und im Einzelfall gefährliche
Vergiftungen verursachen. Die Therapie ist in all
diesen Fällen symptomorientiert und führt in der
Regel zur völligen Ausheilung. Große Sorge ruft
aber die Aufnahme von Lamellenpilzen hervor,
da hier verschiedene potenziell tödliche Vergif-
tungssyndrome bekannt sind, die eine frühzei-
tige spezifische Therapie erforderlich machen.
Verpasst man hier die rechtzeitige Diagnose,
kann ein irreparabler Schaden bis hin zum Tod
des Patienten oder bleibendem Organverlust die
Folge sein.
Im Falle der Amanitin-, aber auch bei Orellanin-
haltigen Pilze sollte die Therapie frühzeitig, d.h.
vor dem Auftreten der ersten Symptome, einge-
leitet werden. Es ist deshalb wichtig, den frag-
lichen ingestierten Pilz genau zu bestimmen. Die
VIZ pflegt daher zusammen mit den anderen Gif-
tinformationszentren in Deutschland eine Liste
sachkundiger Personen, überwiegend Pilzsach-
verständigen der Deutschen Gesellschaft für
Mykologie (DGfM), die bereit sind, bei solchen
Pilzunfällen mit ihrer Expertise zu helfen. Mit 88
Pilzberatern/innen stehen in Baden-Württemberg
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