Andrias 19 - page 196

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andrias, 19
(2012)
2 Öffentliche Pilzberatung in Karlsruhe
während und nach den Weltkriegen
Ein Aufruf zum Sammeln von Pilzen und eine
öffentliche Pilzberatung gab es bereits während
des 1. Weltkriegs in Karlsruhe. Schon Ende des
19. Jahrhunderts wurden in Deutschland Pilze
als Eiweißlieferanten und damit als Fleisch­
ersatz gepriesen (R
ubner
1915). Unberücksich­
tigt in der populären Literatur blieben jedoch Er­
kenntnisse zur schlechten Resorbierbarkeit der
Pilzproteine, was von S
altet
(1885) am Beispiel
des Steinpilzes dargelegt und später von an­
deren Autoren (vgl. die Auflistung der Arbeiten
in B
odinus
1917: 33) bestätigt wurde. R
ubner
(1915) und B
odinus
(1917) betonen deshalb,
dass Pilze keinen hohen Nährwert haben und
„dass für sie die vulgäre Bezeichnung ,Pflanzen-
Beefsteak‘ nicht angebracht ist“ (B
odinus
, l.c.).
Es überrascht daher ein wenig, dass der Aufruf
zum Sammeln eiweißreicher Pilze in Karlsru­
he ausgerechnet von Prof. L
udwig
K
lein
, einem
Botaniker, für gut geheißen wurde. K
lein
, seit
1892 an der Technischen Universität Karlsruhe
Professor und später deren Rektor, war als
de
-
B
ary
-Schüler mit den Pilzen vertraut. Während
des 1. Weltkriegs war er vom Badischen Unter­
richtsministerium beauftragt worden, die Men­
schen zum Sammeln von Pilzen zu animieren
(siehe den Beitrag von U. S
chofer
in dieser Aus­
gabe). In ganz Baden, vor allem aber in Karls­
ruhe, führte er öffentliche Pilzberatungen und
Ausstellungen durch (K
lein
1921a, b, S
choller
2008b). In der Einleitung zu seinem beliebten
Pilzbüchlein mit dem Titel „Gift- und Speise­
pilze und ihre Verwechselungen“ (K
lein
1921a)
berichtet er, dass „ich während des Weltkriegs
eine ausgedehnte Propagandatätigkeit für stär­
kere Ausnutzung unserer Pilzschätze entfaltet
hatte, durch eine Reihe von Pilzausstellungen
... wie durch Lichtbildervorträge und Unterrichts­
kurse...“. Der Karlsruher Lehrer P
aul
S
tricker
(1878-1956) übernahm später K
lein
s Funktion
des öffentlichen Karlsruher Pilzberaters. Aus­
kunft über seine Tätigkeit geben uns S
chwöbel
(1957), K
ühlwein
(1957) und O
berdorfer
(1957),
vor allem aber S
tricker
selbst durch seine un­
veröffentlichten Pilztagebücher (S
tricker
1927-
1956). Demnach beriet er zuhause, auf den
Wochenmärkten (und hier besonders auf dem
Gutenbergplatz) sowie im Rahmen von Aus­
stellungen an den Landessammlungen für Na­
turkunde (dem heutigen Naturkundemuseum).
Zahlreiche „Überbleibsel“ im Pilzherbarium des
Naturkundemuseums (Informationstafeln, Bil­
der, Schaubelege, Pilzmodelle) legen hierfür
Zeugnis ab. In seinen handschriftlichen Pilz­
tagebüchern dokumentierte er Pilzfunde, Be­
ratungserlebnisse und Pressemitteilungen akri­
bisch (Tafel 2, Abb. 3 zeigt seine Kommentare
zu Pilzvergiftungen). Die Tagebücher dokumen­
tieren, welch große Bedeutung die Pilzberatung
für die hungernde Bevölkerung in dieser Zeit
hatte. So berichtete er von einem „Pilzlehrgang“
im Rittnert, einem Waldgebiet im östlichen
Karlsruhe, bei dem „trotz der 400-500 Teilneh­
mer“ manche ihren Korb füllen konnten, am
18.11.1947 „bringt Frau P
fefferle
einige völlig
verfaulte Hallimasch; eine bekannte Frau hatte
sie einem gewissenlosen Händler abgekauft, zu
3 RM!“. Wie groß der Bedarf einerseits und die
Not andererseits war, dokumentiert auch eine
zusätzliche Pilzberatung, die ab ca. 1947/1948
im Keller des 1942 zerbombten Naturkundemu­
seums angeboten wurde. Pilzberater war der
aus dem Sudetenland stammende Kriegsflücht­
ling und Botaniker Prof. J
ohann
H
ruby
(H. S
chwö
-
bel
, mündl.). In den boomenden 1950er Jahren
konnten sich die Karlsruher endlich ausreichend
Nahrungsmittel kaufen und sie waren nicht
mehr auf das Pilzesammeln angewiesen. Dies
hat wohl auch zu einem geringerem Interesse
an P
aul
S
trickers
Pilzberatung geführt. Seinem
Tagebuch vertraut er am 24.11.1951 an: „Heute
habe ich den Pilzmarkt a. d. Gutenbergplatz ge­
schlossen u. gleichzeitig der Markthallenverwal­
tung mitgeteilt, dass ich hiermit meine Funktion
als Pilzkontrolleur einstelle.“ Laut H. S
chwöbel
(mündl.) soll es auch in der Folgezeit öffentliche
Pilzberatungen durch diverse Personen in der
Markthalle gegeben haben, jedoch liegen uns
hierzu keine Dokumente vor. Auch heute gibt es
noch eine Pilzberatung am Großmarkt. Beraten
wird nach telefonischer Vereinbarung, weshalb
die Resonanz gering ist.Ware von Händlern, die
ihre Pilze früher zur Inspektion brachten, gibt es
heute keine mehr zu begutachten. Besucher­
zahlen werden nicht dokumentiert (W. Z
immer
,
mündl.).
3 Pilzberatung am Karlsruher Naturkunde-
museum heute
Die öffentliche Pilzberatung am Karlsruher Na­
turkundemuseum wird seit 2004 einmal pro
Woche (montags, anfangs 16-18 h, später 17-
19 h) von August bis Oktober, je nach Witterung
1...,186,187,188,189,190,191,192,193,194,195 197,198,199,200,201,202,203,204,205,206,...376
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