Andrias 19 - page 362

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andrias, 19
(2012)
Seuche, die im Mittelalter Europa heimsuchte
und die heute noch unter diesem Namen be-
kannt ist. Ihr Erreger wurde 1874 von dem nor-
wegischen Arzt G
erhard
H
enrik
A
rmauer
H
ansen
identifiziert, die mittelalterliche „Lepra“ erhielt
nach ihm auch den Namen „Hansen’sche Krank-
heit“. Jedoch ist diese Haut- und Nervenkrank-
heit, die zu körperlichen, insbesondere Gesichts-
verstümmelungen führen kann, nicht identisch
mit der „Lepra“ der griechischen Bibelüberset-
zung. Denn die griechischen Ärzte kannten die
mittelalterliche „Lepra“ ebenfalls, bezeichneten
sie aber als „Elephantiasis“. K
rochmalnik
(2003:
27f.) zeigt sich einerseits sehr skeptisch bezüg-
lich der Identifizierbarkeit der alttestamentlichen
Krankheitsbilder: „Bisher sind alle Versuche ge-
scheitert, die biblische Lepra (Zara’at) zu identifi-
zieren. Es ist überhaupt fraglich, ob wir es bei der
Veränderung und Verfärbung von Haut und Haar,
die die Bibel so sorgfältig beschreibt, mit einem
pathologischen Zustand zu tun haben und ob die
vorgeschriebene Quarantäne einen epidemiolo-
gischen Sinn hatte“. Dann schreibt er aber doch:
„Am ehesten dürften die von den Priestern be­
obachteten Symptome beim Menschen auf eine
Art Schuppenflechte schließen lassen, wie ja
auch der griechische Begriff „Lepra“ vom Eigen-
schaftswort ‚leprós‘, ‚rau‘, ‚schuppig‘ herkommt“.
D
ouglas
(1999: 183f.) hingegen meint, dass unter
die biblischen Symptombeschreibungen vielerlei
Krankheiten fallen wie etwa Hautkrebs, Schup-
penflechte, Geschwüre, Pest, Mumps, Röteln,
Masern, aber auch die Hansen’sche Krankheit.
L
ampater
(1980: 41f.) setzt biblischen Aussatz mit
der mittelalterlichen Lepra gleich.
5 Zara’at an Häusern – Historischer und
geografischer Hintergrund
Das dritte Buch Mose – Leviticus – enthält haupt-
sächlich Dienstvorschriften für die Priester. Da-
runter fallen Anweisungen für die Gestaltung
der kultischen Feiern, insbesondere der Opfer,
für hygienische Maßnahmen, für die Bestrafung
ethischer und religiöser Vergehen, neben vielem
anderem, was für das Zusammenleben in einer
antiken Gesellschaft wichtig ist.
Das ganze Buch Leviticus hat die literarische
Form einer göttlichen Anweisung (Tora) an M
ose
bzw. seinen Bruder A
aron
, die nach der Befrei-
ung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei
bei der Gesetzesoffenbarung am Berg Sinai
ergangen ist. Die von Leviticus berichteten Ge-
setzesproklamationen müssten dann in eine Zeit
vor 1.000 v. Chr. gefallen sein. Denn an dieser
Jahrtausendwende wird die Geschichte Israels
historisch greifbar, die in den Mosebüchern be-
richteten Ereignisse müssten also vorher stattge-
funden haben (D
onner
1995).
Seine heutige Form hat das Buch Leviticus aber
erst im fünften Jahrhundert vor Christus bekom-
men. Es liegen also fast tausend Jahre zwischen
den berichteten Ereignissen am Sinai und der
redaktionellen Letztfassung des Berichtes. Diese
Entstehungssituation unseres Textes ist für seine
Interpretation wichtig.Wir müssen daher kurz auf
die Geschichte Israels eingehen.
Die historisch-kritische Wissenschaft kommt zu
dieser Sicht (D
onner
1995): Um 1.000 vor Chri-
stus lebten in Palästina die Könige S
aul
und
D
avid
. Saul herrschte über eine Gruppe von
Stämmen, die auf einem Teilgebiet des späteren
Volkes Israel siedelten. Sein Nachfolger D
avid
vereinte in Personalunion die Herrschaft über
die Stämme S
aul
s, über den südlichen Stamm
Juda und über den kanaanäischen Stadtstaat
Jerusalem. In das nationale Bewusstsein dieses
gesamtisraelitischen Staates ging im Laufe der
Zeit die Exodus-Tradition ein. Nach ihr lebten die
Vorfahren einer israeltischen Teilgruppe einst in
ägyptischer Sklaverei, wurden aber durch M
ose
daraus befreit und nach Palästina geführt. M
ose
seinerseits sei durch Jahwe, eine vorderorienta-
lische Gottheit, zu dieser Befreiungsaktion beru-
fen worden.
Unter den Nachfolgern D
avid
s kam es zu einer
Spaltung Gesamtisraels in das Nordreich (das
hinfort den Namen Israel führte) und in das
Südreich um Jerusalem (das den Namen Juda
trug). Das Nordreich ging im 8. Jahrhundert vor
Christus unter. Das Südreich wurde um 600 vor
Christus von den Babyloniern erobert und in das
babylonische Reich eingegliedert. Die judäische
Oberschicht wurde nach Babel deportiert, um
zu verhindern, dass es in Juda zu militärischem
Widerstand gegen die babylonische Herrschaft
kam.
Auch die Jerusalemer Priesterschaft befand sich
nach 600 im babylonischen Exil, der heimische
Tempel war von den Siegern zerstört worden. Im
Exil wurden die Judäer mit der Kultur und damit
auch mit der Religion der Sieger konfrontiert.
Die allmähliche Assimilation der Fremden an die
heimische Leitkultur war zu erwarten. Es traten
aber Profeten auf, die die judäische Identität zu
sichern versuchten (vor allem D
euterojesaja
, der
namentlich unbekannte Prophet, dessen Reden
1...,352,353,354,355,356,357,358,359,360,361 363,364,365,366,367,368,369,370,371,372,...376
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